REISEN DURCH DIE ZWISCHENLAGER IMAGINIERTER WIRKLICHKEITEN ZURÜCK INS ARCHIV IHRER MÖGLICHKEITEN IM WERK VON BRADLEY DAVIES
Annelie Pohlen

 

Ein Essay zur Ausstellung "Bradley Davies: Hold Your Horses"

Aus Gefilden, die einst die Welt bedeuteten, hat sich das Pferd davon gemacht. Auf der Suche nach einer sinnvollen Existenz im Hier und Jetzt hat es die Transformation in ein Wesen gleichen Namens aus der Welt des neuzeitlichen Leistungssports riskiert und sich kurzerhand auf dem Boden einer möglicherweise tauglicheren Arena ausgestreckt. Seine nicht minder aus der Zeit gefallenen Besitzer schwingen zwar immer noch ihre ritterlichen Waffen so, als wollten sie schlicht nicht wahrhaben, dass das Pferd, das sie in heroischen Zeiten von Sieg zu Sieg trug, nun auf anderen Feldern um Aufmerksamkeit buhlt. Ungetrübten Genuss am Wettstreit zwischen Mensch und Tier verheißt Bradley Davies‘ bizarre Transformation seiner einstigen Größe dort wohl eher nicht. Stehen ihm doch die neben seinem Rumpf platzierten Beine, mithin nicht ganz unwesentliche Teile seiner einst glorreichen Existenz, bestenfalls als skulpturale Krücken zur Verfügung. Aus ihrer erhabenen Starre werden sie weder die einlullende Soundcollage der schnaubend, wiehernd und stampfend in ihren neuen Raum vorrückenden Pferde aus der „Arena“ der Kölner Stadtsoldaten noch jene die Sinne wie Geist charmierende Neuauflage der „Memoirs of Dick, the little Poney“ befreien. Warum auch sollte ein „little Poney“ – ob im edelste Druckqualität simulierenden Begleitheft oder beim performativen Auftritt seines „Schöpfers“ auf der Bühne gleich nebenan – den Nachfahren jener heroischen Wesen, die samt ihrer ritterlichen Lenker nun auf den Niederungen des Fußbodens oder den wenig glanzvollen Schlachtfeldern von Bügelbrettern gelandet sind, auch nur die geringste Aufmerksamkeit schenken? Zumal Bradley Davies seine für den Kunstraum gezüchteten Geschöpfe samt deren sportiven Nachfahren gleich von allem erlöst hat, was ihren neuen gymnastischen Nutzern heilig ist. Seiner Beine beraubt kann sein Pferd bestenfalls als mit Leder gepolsterte Sitzbank durchgehen.

Für seinen Auftritt in der Temporary Gallery prangt auf der Einladung ein mit einer banalen Plastikkordel versehener Türgriff. Bradley Davies‘ Pferd lässt sich dort, wo Ritter und Cowboys ihre stolzen Begleiter festmachten, auch ohne lederne Zügel im Zaum halten. Wem die zum Entree dienliche Plastikkordel Unbehagen bereitet, der/die wird sich an der edleren Materialität seines sonstigen Geschirrs laben. Dessen mit vielfältigen geistigen wie sinnlichen Erlösungsphantasien aufgeladene Relikte sind in Sichtweite des gestrandeten Pferdes in die Wand des Repräsentationsraumes eingelassen.

Aus der Riege der vorzeitlichen Besitzer ist – kurz nach deren noch redlich glanzvollem Auftritt in der Stadt mit dem symbolträchtigen Namen Siegen – der eine oder andere erst einmal ins eigens geschaffene Zwischenlager der Temporary Gallery eingezogen. Gewissermaßen backstage pausieren sie nun auf unabsehbare Zeit in trauter Gesellschaft mit allerhand Requisiten sich reibender und spiegelnder Wirklichkeiten aus Kunst und Alltag, Historie und Gegenwart. Kann man erst einmal übersehen nach den vielen vorausgegangen Auftritten dieser mäandernden Schatten hochgerüsteter ‚iron men’. Für deren wechselnde Gesellschaften stellt Bradley Davies die leidlich kunstfertig umfunktionierten Bühnen ohnehin von Fall zu Fall passend zum gegebenen Ort bereit.

Was möglicherweise seinem besonders spitzfindigen Verständnis dessen zu verdanken ist, was man in der Kunstkontextsprache ‚ortsspezifisch‘ nennt. Und so kommt in der Temporary Gallery die Ikone seiner gegenwärtige Heimatstadt Köln ins Spiel. An der führt selbst für einen im noch immer stolzen Zentrum eines ehemaligen Weltreichs geborenen Bradley Davies kein Weg vorbei. Weswegen die vom hauseigenen Domradio zum historischen wie touristischen Vergnügen vermeldete Begebenheit, derzufolge die napoleonischen Truppen bei ihren Eroberungszügen den ehrwürdigen Kölner Dom unter anderem auch zum Pferdestall umwidmeten, sich umgehend in Bradley Davies‘ Werkstoffkasten einnistet. Was der Soldateska ebenso wie deren auf Säkularisierung gepoltem Kaiser wohl zuzutrauen war. Und dem auf Geschichte(n) versessenen britischen Künstler heute die Steilvorlage liefern konnte für allerhand hintergründige Gedankenschleifen zwischen den physischen Stoffen der Ausstellung im Raum und deren aus vielen historischen Ereignissen gefilterten und nun in alle Richtungen strahlenden Erfindungen in Text, Bild, Schrift, Farbe und Ton.

Und so wie der über die territorialen Grenzen galoppierende französische Herrscher im stolzen Köln unter den widerständigen Bürgern nachdenkliche wie karnevaleske Riten hinterließ, so auch die aus dem kontinentalen Frankreich über den Ärmelkanal ziehenden Protagonisten der legendären Schlacht von Hastings. Die dort zur Ordnung gerufenen Inselbewohner landeten schließlich auf Umwegen über die nicht minder legendären Tapisserien von Bayeux im Fundus des von der Insel auf den Kontinent zurückgereisten Bradley Davies.

Dass die im angelsächsischen Sprachraum geläufige Wortkombination "iron out your battles” den mit Gedanken, Worten, Texten und Bildern jonglierenden Artisten in seiner neuen Wahlheimat anstiften musste, die deutschsprachigen Übersetzungsmöglichkeiten beim Wort zu nehmen, liegt auf der Hand: Weswegen er beim Ausbügeln der Folgen des Krieges zwischen dem erfolgreichen Wilhelm der Eroberer und seinen unbotmäßigen Gefolgsleuten die mehr oder minder belegten Auftritte der Kombattanten in den gestickten Tapisserien in eher weniger edler, gleichwohl brillant täuschender Technik auf das wahrlich banale Alltagsschlachtfeld von Bügelbrettern katapultiert. Was als gewagte Kollision zwischen Ehrfurcht vor den aus der Zeit gefallenen Helden und Abneigung ob ihrer respektlosen Platzierung beim Publikum, die Autorin dieses Textes eingeschlossen, durchaus unkalkulierbare Reaktionen auslösen kann.

Signalstörung“ ist die nahezu zeitgleich zu „Hold Your Horses“ inszenierte Ausstellung in Siegen betitelt. Dort ist ein stattliches Aufgebot dieser mittels Malerei ausgebügelten Heroen auf dem Boden und an den Wänden des Kunstvereins gelandet. Mehrheitlich zusammengeklappt, mithin irgendwie beinlos wie Bradley Davies’ Pferd, dafür allesamt als zur Legende gewordene Individuen porträtiert und mit Namen versehen in ihrer kulturhistorischen Pracht wiedererkennbar. Was in Köln zur kunstfertigen Überblendung der schnöden Ausbeutung des sakralen Ortes durch den raumfüllenden Sound der dieser bis heute trotzenden Karnevalsritter dient, bieten in Siegen nicht minder ortsspezifisch die beidseitig der vormaligen Schaufensterfront platzierten Kontaktmikrophone als nach innen wie nach außen gerichtete Vermittler der wasser- und windbasierten Soundcollage „looking through the hearing glass“. Es sind Botschaften aus dem Alltag, deren allzu rüden Folgen man in der Schutzzone des Kunstvereins fürs erste entkommen ist. Auch den als Weltkulturerbe der Unesco überlebenden Protagonisten der historischen Schlacht von Hastings hat Bradley Davies so in seinem konzeptuellen Kosmos unablässig zirkulierender Bild/Wort-Verdichtungen eine weitere Chance gegeben.

In Siegen führt der Parcours durch die Versammlung ihrer in perfekter Trompe-l'œil-Malerei ausgeführten Simulanten zu den eher diskret in die Inszenierung eingestreuten, in ebendieser Technik abgemalten Detailfotografien aus der Warn- und Überwachungswelt archaischer Leuchttürme. In Köln fordert die unterkühlte Brillanz ihrer drei Pendants gleich im Entree die Aufmerksamkeit des Publikums. Weswegen die hintergründige Spielerei mit den möglichen Assoziationen zwischen dem in „Scale Electric“, „Rainbow Warp“ oder „ZoOom“ individualisierten Licht der Linsen und dem an der Grenze zum Bizarren schlingernden Arrangement der eingefriedeten Sonnenblumen auf dem Boden die Wahrnehmung des Raumes in eine seltsame Schieflage katapultiert.

„What Juju? In the Botanic Gardens“ ist eine der wunderbar subversiven Postkarten betitelt, die Bradley Davies 2019 der GAK in Bremen als Jahresgabe zur Verfügung stellte. Seine in bester Aquarell- und Gouache-Technik gefertigten Postkarten zogen das kunstsinnige Publikum erwartungsgemäß derart in seinen Bann, dass sein Angebot alsbald vergriffen war. „Sein Interesse gilt den Abweichungen, den Fehlstellen im massenmedial verbreiteten Bild, deren Bedeutungen er durch Bildausschnitt und Wiederholung, die Auswahl seiner künstlerischen Materialien und seinen häufig als Witz getarnten Umgang mit dem Werk auflädt.“ 1 So oder so ähnlich lauten viele Deutungsversuche, denen sich die Autorin dieses Textes durchaus anschließt. In Davies‘ für die Postkarte angeeigneter historischen Grafik schwingt sich ein wild maskiertes Gespenst an den endlosen Schlingen eines Seilbaums durch das überbordende Wachstum eines botanischen Gartens. „In a general sense, the term ‚juju‘ can be used to refer to magical properties dealing with good luck … ‘Juju’ is a folk magic in West Africa ... Juju charms and spells can be used to inflict either bad or good juju ... It is neither good nor bad, but it may be used for constructive purposes as well as for nefarious deeds."2 Bezeichnenderweise haben auf einer weiteren Postkarte aus besagter Folge zwei Schimmel eine junge Frau und deren Begleiter an einen weißen Sandstrand am blauen Meer getragen. Dort, wo der Sattel ist, hat Davies je eine rote Rose gemalt. Die Lady ist abgestiegen, ihr Begleiter nicht. Weswegen der mutmaßliche Lover hinter der Liebesblume verschwindet. Das Szenario firmiert als „New Romantics“.

Um Leser und Leserinnen dieses Textes aus potentiell allzu verwirrenden, wenn nicht gar abwegigen Gedankenschleifen zu befreien: Die Autorin folgt schlicht einem hintergründigen Vergnügen des Künstlers an Wortspielereien, ja – auch solchen, die der sich für gebildet haltende Kunstgenießer für eine ziemlich platte, mindestens aber Grusel erregende Zumutung halten kann. Dass sich deren Zündstoff samt ihrer mehr oder minder tauglichen Gedankenblitze gegebenenfalls – wie bei der Autorin selbst – mit allerhand Verspätung entlädt, sei hier ausdrücklich angemerkt.

Prozesse der Verführung durch Vortäuschung vermeintlicher Wirklichkeiten sind beileibe keine Erfindung hochgeistiger Kulturvertreter*innen, auch wenn sich die Legende vom malenden Künstler Zeuxis von Heraklaia aus vorchristlichen Zeiten so deuten lässt. Der Antike galt die Kunstfertigkeit zur Täuschung noch als Demonstration der Überlegenheit des Menschen über die auf Zeuxis’ Trauben versessenen Tiere. Wiewohl auch die längst in Frage steht, erfreut sich diese Fähigkeit in der Gemeinde der durch allerhand destruktive Prozesse in der Gegenwartskunst verstörten Kulturbürger*innen höchster Wertschätzung. Und das wohl ungeachtet oder gerade wegen einiger unwiderruflicher Gegebenheiten: Je weiter die Entfremdung des wahrnehmenden Menschen vom vermeintlichen Gegenstand der Wahrnehmung, den man vormals Wirklichkeit nannte, fortschreitet, umso facettenreicher gerät auch die Palette des menschlichen Strebens nach Aneignung durch Imitation – im Alltag wie in der Kunst.

Vielleicht ist es gewagt, vielleicht auch angemessen, Bradley Davies’ Signalstörung als konzeptuellen Brennpunkt im irrlichternden Netzwerk seiner künstlerischen Auseinandersetzung mit einer Wirklichkeit jenseits des Offensichtlichen zu verstehen. Geht es doch in letzter Konsequenz um unaufhaltsame Turbulenzen als Folgen enttäuschter Erwartungen. Und was wäre da angemessener als die seit jeher bewunderte Technik zur Täuschung des wahrnehmenden Auges, um von dort über die Täuschung aller Sinne schließlich jenen des Denkens auf die Spur zu kommen. Und dennoch Spaß zu haben an den „Rollen, die wir für den Schauplatz Gesellschaft perfektionieren. Geschichten, die wir erzählen, Spiele und Musik, die wir spielen, lese ich mit Liebe zur Poesie als Geflecht aus absurder Komödie oder Satire. Für mich ist Maskerade ein Mittel, sich diesen Phänomenen zu nähern.“3

Was nun der sein Instrumentarium perfekt beherrschende, malende Signalstörer mit subversiver Bravour als das vorführt, was es in seinem unablässig zirkulierenden, konzeptuellen Kosmos ist: eine Möglichkeit, die für sich genommen so unbedeutend ist wie gemalte Trauben, die den Vögeln so wenig zum Überleben helfen wie Linsen archaischer Leuchttürme dem Sonnenblumenfeld hinter dem Eingangstor zur Temporary Gallery. So wenig wie im Übrigen auch der blaue Anstrich, von dessen Brillanz in der Requisitenkammer noch Bradley Davies‘ zwischengelagerte Bügelbrettheroen zehren, das vormalige Garagentor von seiner Schwerlast befreit. Und doch: So schön subversiv wie die im Netz gespeicherte Postkarte der „New Romantics“ können eben die den strahlenden Vortäuschungen trotzenden Vorstellungen unerledigter Utopien aus den zeit- und ortlosen Archiven eines unbeirrbaren, vielleicht gar nachromantischen Geschichtenerzählers sein.

Anmerkungen:
1— Jahresgaben, GAK Gesellschaft für Aktuelle Kunst e.V., Bremen
2— aus dem in diesem Kontext außerordentlich inspirierenden, weil unabgesichert facettenreichen Autorenlexikon in Wikipedia. (https://en.wikipedia.org/wiki/Juju)
3— Bradley Davies anlässlich der Verleihung des WERK.STOFF Preises für Malerei der Andreas Felger Kulturstiftung und des Heidelberger Kunstvereins, 2021

Annelie Pohlen (*1944) lebt und arbeitet in Bonn. Von 1986 bis 2004 war sie die erste fest angestellte Direktorin des Bonner Kunstvereins. Sie veröffentlichte ihre Texte unter anderem in Artforum, Flash Art und KUNSTFORUM International. 2018 wurde sie zusammen mit Renate Puvogel mit dem Rheinlandtaler des Landschaftsverbandes Rheinland für ihre langjährige regional wie international wirkende Arbeit für die Gegenwartskunst ausgezeichnet.

Bilder
1/2 — Bradley Davies: instable, 2022
3 — Anon.: Memoirs of Dick the Little Poney; Supposed to be written by himself; and published for the Instruction and Amusement of Good Boys and Girls, London 1800, J. Walker, No.44, Paternoster Row; and sold by E. Newbery, Corner of St. Paul's Church-Yard
4/5 — Bradley Davies: Looking through the hearing glass, 2022, Signalstörung, Kunstverein Siegen
6 — Let's comet, 2019
7 — What Juju? In the Botanic Gardens, 2017
8 — Rainbow Warp, 2022
9 — ZoOom, 2022
10 — New Romantics, 2019

Fotos:
1, 2, 6, 8, 9—Tamara Lorenz
4, 5—Simon Vogel
7, 10—Courtesy: GAK Gesellschaft für Aktuelle Kunst e.V. / der Künstler