Alberta Whittle
…Moving Beyond the Time of Salt
22 Juni—15 Dezember 2024
Eröffnung: Fr 22 Juni, 19 Uhr

 

Öffnungszeiten der Ausstellung:
Mo, Do und Fr, 12—19 Uhr

Öffentliche Führungen mit Lisa Klosterkötter:
15 September, 13 Oktober, 23 November, 15 Dezember, jeweils 15 Uhr

Kuratiert von Sour Grass

Das Booklet zur Ausstellung findest du hier.

Ein Gespräch zur Ausstellung mit Alberta Whittle und Sour Grass findest du hier.

Alberta Whittles Werk ist geprägt von der physischen Geografie ihrer Kindheit, die sie in verschiedenen Gemeinden auf der kleinen Insel Barbados im Südosten der Karibik verbrachte. Sie lebte nah an der Süd- und Westküste und konnte durch die Landschaft streifen, am Strand spazieren gehen, tauchen, schnorcheln, auf Bäume klettern und auf Wiesen und Weiden spielen. So entstand ihr besonderes Verhältnis zur natürlichen Welt. Als kleines Kind fand Whittle Orte, an denen sie sich zurückziehen, vergraben, Höhlen bauen und Zuflucht in und mit der Natur finden konnte.

Whittles Arbeit beginnt mit Lektüren und Recherchen, die in ihre interdisziplinäre Antwort auf die tiefgreifenden Unzulänglichkeiten und Ungerechtigkeiten der heutigen Gesellschaft einfließen. Wie ein roter Faden ziehen sich die Themen Rebellion, Flucht und die Frage, was wir aktuell aus persönlicher, politischer und planetarischer Sicht tun können, durch ihr Werk. Wie können wir kollektiv einen Wandel herbeiführen und die Veränderungen hervorbringen, die unsere Gesellschaft erfordert? Whittle vermag in ihrer filmischen Praxis schnell auf die Geschehnisse in der Welt zu reagieren, was sich in ihrer Fähigkeit zeigt, durch den kollaborativen Prozess einen Dialog zu provozieren, der sich mit der kognitiven Dissonanz befasst, insbesondere in Bezug auf Schwarze Frauen, das Ignorieren oder Auslöschen ihres Wissens und die allgemeine Missachtung Schwarzen Denkens.

Ein weiteres Bindeglied zwischen Whittles Arbeit und dem Jetzt ist ihr tiefes und anhaltendes Interesse an kollektivem Handeln und Zusammenarbeit. Ihre Arbeiten beinhalten häufig ein längerfristiges Engagement, bei dem viele Geschichten von vielen Händen zu Tapisserien verwebt werden, in denen es um die Frage geht, wie Fürsorge, Liebe, Befreiung und Gerechtigkeit in ihren Gemeinschaften bewusst gelebt werden können angesichts einer immer größer werdenden epistemologischen Kluft zwischen der europäischen und der karibischen Selbstwahrnehmung und den unterschiedlich verstandenen gemeinsamen Geschichten. Whittle stellt in ihrer Praxis schwierige Fragen unserer Zeit – was können wir tun, um, jenseits der kolonialistischen und kapitalistischen Produktion und Isolation, die zu Vernachlässigung, Auslöschung und Abschottung führen, mehr Selbstmitgefühl zu entwickeln, zum kollektiven Träumen anzuregen und die Ganzheit und Verstrickungen in unseren Geschichten und Abstammungen zu berücksichtigen?

RESET, eine filmische Arbeit aus dem Jahr 2020, die anlässlich der Verleihung des jährlichen Frieze Artist Award an Whittle gemeinsam von Forma und Frieze produziert und in Auftrag gegeben wurde, bildet den Rahmen für ...Moving Beyond the Time of Salt, die erste Einzelausstellung der Künstlerin in Deutschland, in der Temporary Gallery in Köln. Die ersten drei Minuten des insgesamt 32-minütigen kollaborativen Aufrufs zum Handeln beginnen damit, dass die Künstlerin die Betrachter*innen auffordert, mit ihr zu meditieren, in dem Versuch, zu heilen, sich im eigenen Körper zu erden, verkörpert zu werden und mit dem Körper einen Weg zur Heilung zu finden. Beim Übergang zu einer traumartigen Sequenz rezitiert die Künstlerin Fragmente des poetischen Textes On Touching von Ama Josephine Budge. Der Soundtrack, Maroon Rage von St. Mozelle alias YBG, begleitet die Betrachter*innen während der gesamten Zeit, nur unterbrochen von der Stimme der Künstlerin beim Lesen von Wörtern, die zeitgleich über den Bildschirm schweben. In einer Anerkennung der Vorfahr*innen mittels der Erinnerung an den Gezeitengesang einer Urgroßmutter und das Ausatmen von Murmeln aus einem Mund bricht der Bildschirm auf in Bildfragmente von Wasserflächen, Strömungswelten, Scharen von Zugvögeln und Demonstrierenden in den unterschiedlichsten Städten, unterbrochen von vertikalen Streifen, deren visuelle Unstimmigkeit den Bildschirm einmal mehr in eine Zusammenstellung aus disparaten Bezugsrahmen zerteilt.

In dem Werk, das während der Corona-Pandemie entstand und durch das Fehlen von Außenraum und Whittles große Sehnsucht nach der Natur in Zeiten des Lockdowns beeinflusst wurde, meditiert die Künstlerin darüber, was Gehen, Freiheit und Fürsorge für die Umwelt bedeuten. Zu ihrem Rückzugsort in dieser Zeit – dem Grundstück ihrer barbadischen Familie – gehörte ein wilder Garten mit Kalebassenbäumen und Vogelgezwitscher. Whittles Überlegungen zum Gefühl der Sehnsucht in RESET deuten darauf hin, dass die Landschaft in der Arbeit weniger ein Schauplatz ist als ein weiterer Protagonist, der etwas über die Komplexität der Geschichte sagt.

Die filmische Erzählung beginnt mit der sanften, beruhigenden Stimme der Künstlerin, die in das Läuten einer Glocke übergeht, gefolgt von einem immer lauter werdenden Wehklagen, gestaltet von Whittle und ihren Kompliz*innen (den Mitwirkenden), zu denen auch eine Schriftstellerin, eine Tänzerin, ein Performer und ein Komponist gehören, deren umfassende Beteiligung in Räumen stattfindet, die tief im Kolonialismus verwurzelt sind. Der Einsatz von Klang in Whittles gesamter künstlerischer Praxis stellt eine bewusste Anleihe bei der Struktur kreolischer Sprachen dar, wie sie in der gesamten Karibik verbreitet sind. Erwähnt werden sollte hier das von dem barbadischen Dichter Kamau Brathwaite stammende Konzept der Nation Language, will man verstehen, wie durch die Möglichkeiten von Mash-up und Synkope scheinbar disparate und vielschichtige Klänge zusammengeführt werden, die stark angelehnt sind an Dancehall-Kultur, das südafrikanische Amapiano und Orchester, die allesamt den Klängen dieser Natur und den über Generationen reichenden Abstammungslinien huldigen. Songlines erzeugen ein uraltes Grollen in unserem Bauch, während wir erleben, wie dieses Werk neue Bewegungen und Erinnerungen hervorbringt.

Der Schwarze weibliche Körper – oft assoziiert mit den Anforderungen seiner jeweiligen Arbeit, ohne dass sich um ihn gekümmert würde – bewegt sich im gesamten Film auf neuartige Weise, um gemeinschaftliche Netzwerke der Fürsorge wiederherzustellen, ohne sich selbst dabei zu vernachlässigen. Frauenarbeit beinhaltet hier Kompostierung – Integration, Assimilation und Aktion – als Vorbereitung von Saatbeeten für kreatives und aktives Handeln. Humus, Tod und Verfall werden in das Gewebe ursprünglichen Lebens gewirkt, und das heilige Weibliche wird durch die wässrigen und flüchtigen Unterströmungen, die sich in der Gegenwart der Schlange winden, befreit. Je eindringlicher das Werk wird, desto mehr öffentliche Aktionen und Demonstrationen aus der ganzen Welt sind zu sehen, darunter aus Glasgow und Südafrika sowie die Black-Lives-Matter-Proteste in Barbados; sie holen die Betrachter*innen aus ihrer selbstgefälligen Komfortzone.

Zusätzlich gestört wird das Bild durch einen Limbotänzer, der sich unter Stoßstange und Kühlergrill eines geparkten Autos in einer Seitenstraße von Havanna hindurchschlängelt und das Gefühl der Unsicherheit verstärkt. Atem wird zu einer verbindenden, ungleichen Kraft bei der gleichzeitigen Betrachtung mehrerer miteinander verknüpfter Geschichten. Der Film wurde in einer Zeit gedreht, in der zahlreiche Menschen wie Simone Francis in Großbritannien oder George Floyd und Breonna Taylor in den USA ihr Leben verloren haben – Menschen, die nicht den Luxus hatten, Luft in ihre Lungen saugen zu können. Der Film lädt uns ein, kurz innezuhalten, in kollektiver Trauer zu verharren, darüber nachzudenken, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, und einander und uns selbst mehr Aufmerksamkeit zu schenken, während wir uns für Gerechtigkeit und Strategien der Befreiung stark machen.

Neben RESET gibt es eine Klangarbeit und eine Installation mit dem Titel A portal for breathing love into the Elders or an Adoration for kith-folk who we long for (Ein Portal, um den Ältesten Liebe einzuhauchen, oder eine Anbetung Angehöriger, nach denen wir uns sehnen) sowie eine Reihe einzigartiger Drucke, in denen die Künstlerin aus dem gewaltigen Vorkommen an historischen Bildern zu Themen wie der Kolonisierung, Entführung und Enteignung indigener Völker schöpft. Installationen, die sich mit verschiedenen Wissenssystemen befassen, die auf das Land und indigenes Wissen als Wegweiser für die Zukunft zurückblicken.

Während der Ausstellung wird ein digitaler Katalog zur Vertiefung von Aspekten der Synkope, Multivokalität und Zusammenarbeit veröffentlicht. Die Ausstellung ...Moving Beyond the Time of Salt fördert den weiteren Ausbau des kollaborativen Netzwerks Whittles mit Institutionen, Geflüchteten und Aktivist*innen in ganz Köln, um sich mit Strategien der Gerechtigkeit, Befreiung und Freude auseinanderzusetzen. Nach einer Reifephase der Forschung und des Engagements werden aus all dem neue Auftragsarbeiten für 2025 hervorgehen.

 

Biografien:

Die barbadisch-schottische Künstlerin Alberta Whittle beschäftigt sich in ihrer vielfältigen Praxis vorrangig mit der Entwicklung einer persönlichen Antwort auf die Vermächtnisse des atlantischen Sklavenhandels, indem sie dessen Verbindungen zu institutionellem Rassismus, weißer Vorherrschaft und der Klimakrise in der Gegenwart aufdeckt. Whittle möchte angesichts der bedrückenden politischen Verhältnisse die Hoffnung in den Mittelpunkt stellen und sich mit unterschiedlichen Formen des Widerstands auseinandersetzen. Whittle hat Schottland auf der 59. Biennale von Venedig vertreten und wurde 2022 mit dem Paul Hamlyn Awards for Artists ausgezeichnet. 2020 erhielt sie den Turner Bursary und den Frieze Artist Award, 2018/19 war sie die Preisträgerin des Margaret Tait Award. Whittle präsentiert derzeit eine neue Einzelausstellung im Institute of Contemporary Art in Los Angeles und nimmt auch an der 14. Gwangju Biennale teil. Die Scottish National Gallery of Modern Art (Modern One) in Edinburgh hat 2023 eine große Einzelausstellung über ihr bisheriges Schaffen gezeigt.

Das Kuratorinnenduo und Experiment Sour Grass wurde 2020 von Holly Bynoe und Annalee Davis gegründet. Sein Anliegen ist es, mit Künstler*innen und Kreativen aus der Karibik und ihrer Diaspora zusammenzuarbeiten, um transnationale Beziehungen zu Museen, Kultureinrichtungen, Sammler*innen, Verlagen, Biennalen sowie privaten und öffentlichen Einrichtungen aufzubauen.

Ein besonderes Interesse von Sour Grass gilt der alternativen Kunstpädagogik, dem Aufbau von Diskursprogrammen und der Herstellung eines Zusammenhangs zu globalen Weltanschauungen und Mythen, um so Affinitäten und Parallelen zur Karibik lebendig werden zu lassen. Sour Grass ist ein dekolonialer Körper und eine Brücke zur Aktivierung kultureller Manifestationen von Aussaat, Kreuzbestäubung, Keimung, Anbau und Ernte.

Förderung und Unterstützung:
Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen
Kulturamt der Stadt Köln
Deltax contemporary
Hotel Chelsea
ifa - Institut für Auslandsbeziehungen

Bildwe:
1: Alberta Whittle, RESET (film still), 2020. Co-produced and co-commissioned by Frieze and Forma. Courtesy the artist and The Modern Institute/Toby Webster Ltd., Glasgow.
2—22: Alberta Whittle: …Moving Beyond the Time of Salt, 2024, Installationsansichten, Fotos: Simon Vogel, Köln

Werkangaben:
2—13
Jamestown mythology: Amonute, 2023, Laser-engraved woodblock print on Somerset Satin with saliva embossed in gold

Kithship Transmissions (Silver), 2021, Photo etching on copper plate printed on Somerset Velvet 250gsm

Kithship Transmissions (Copper), 2021, Photo etching on copper plate printed on Somerset Velvet

Sticky Mythologies (Secota) II, 2021, Photo-etched copper plate with ink residue on hand-carved music stand

Sticky Mythologies (Secota) I, 2021, Photo-etched copper plate with ink residue on hand-carved music stand

Jamestown mythology: Amonute (copper bottom), 2023, Laser-engraved woodblock matrix with photo-etched copper additions on hand-carved music stand

Coiling beneath the waves, the sand reminds us to believe, 2024, Cowrie shells, glass beads, pony beads, jewellery wire & shackles

14—21
A portal for breathing love into the Elders or an Adoration for kith-folk who we long for, 2021, Audio, chair, scarves, bowl, snake & aloe plants in plastic tubs, machete, cowrie shells, conch shells, bells and other items

22
RESET, 2020, Video (Original shooting format: 4K, 2K and HD), Duration: 32 mins

Alle Arbeiten Courtesy der Künstlerin und The Modern Institute/Toby Webster Ltd. Glasgow
Alle Fotos: Simon Vogel, Köln