FORTINI/CANI
Straub/Huillet
2 Dezember 2016
Gespräch und Screening im Rahmen der Ausstellung "Straub/Huillet/Weiss. Fremdheit gegenüber unserer engen, vertrauten Welt", eingeführt von Tobias Hering
Jean-Marie Straub/Danièle Huillet:
Fortini/Cani, 1976, 83 min
"Morgens lag die Terrasse im Schatten. Dann kam die Sonne und wärmte alles auf. Wir waren umgeben von Bäumen, Blumen, Klarheit und Licht. Zahlreich waren die Stimmen der Vögel. Hinter dem Haus erhob sich der Berg, ganz mit Laubgrün bedeckt. Nach vorne ging der Blick auf Hecken und abschüssige Felder, und das Meer, ruhig und dunkelblau. Die kleine Terrasse, auf der Straubs Team sich bewegte, war ein klar umrissener Raum, eine feierliche Bühne. Auf dieser Bühne habe ich zehn Tage damit verbracht, die Namen meiner Jugend zu wiederholen, die Worte meines Vaters, das Grauen und die Scham, aus denen wir alle hervorgegangen sind. Die gesamte Realität des ‘materialistischen’ Kampfes zwischen den Klassen war in diesen idyllischen Farben enthalten, und für uns war sie untrennbar verbunden mit dem Gesang der Vögel." (aus: Franco Fortini, "A Note for Jean-Marie Sträub", in: Franco Fortini, Jean-Marie Straub, Daniéle Huillet, "Les Chiens du Sinaï, Fortini/Cani", Les Cahier du Cinéma, 1979)
In "Fortini/Cani" liest Franco Fortini auf dieser Terrasse lange Auszüge aus seinem Essay "I Cani del Sinai" (Die Hunde vom Sinai), den er 1967 unter dem Eindruck des Sechstagekrieges geschrieben hatte. Aus der Streitschrift gegen die pro-israelische Parteinahme und den anti-arabischen Rassismus der meisten westlichen Medien wird die autobiografisch geprägte Bestandsaufnahme eines kommunistischen Intellektuellen, der in einem jüdisch-bürgerlichen Hintergrund in Florenz aufgewachsen ist, Zeuge des Faschismus war und sich der Resistenza angeschlossen hatte. Fortinis Text ist die Matrix des Films; seine Stimme, sein lesender Körper tragen das Kontinuum zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Bilder, in die Straub und Huillet den Text sich einschreiben lassen, zeigen Formen der An- und Abwesenheit dessen, wovon die Rede ist. Dabei werden Orte, die zunächst für Vergangenes stehen, zu Schauplätzen einer Zukunft, "die erst noch gewollt werden muss", so Fortini in dem bereits zitierten Text.
Tobias Hering ist freier Kurator und Publizist und lebt in Berlin. Er ist Ko-Kurator (gemeinsam mit Annett Busch) des Programmzyklus’ "Sagen Sie’s den Steinen" zum Werk von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet an der Akademie der Künste, Berlin, im Herbst 2017.
Bilder
Jean-Marie Straub/Danièle Huillet: Fortini/Cani, 1976
Courtesy Straub Huillet Films, BELVA Film