SEMINAR
Sensory Ethnography
12–13 Juni 2019
Seminar in Kooperation mit dem Global South Studies Center der Universität zu Köln
Co-kuratiert mit Anja Dreschke
Das 2006 von Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor an der Harvard University gegründete Sensory Ethnography Lab (SEL) hat nicht nur das Konzept des ethnografischen Films erweitert, sondern auch die allgemeine Konzeption des Dokumentarfilms. Scott MacDonald zufolge ist es das Ziel dieser ethnografischen Filmemacher, "zumindest einige der sensorischen Elemente der Kultur einzufangen... und die komplexe, facettenreiche Erfahrung der Existenz in der Kultur hervorzurufen" (Avant-Doc, S. 374). Dies steht natürlich in scharfem Gegensatz zu einem traditionellen Verständnis von ethnografischem Film, der eine erklärende Haltung einnimmt und von einer fundamentalen Verständlichkeit des Dargestellten ausgeht. Die von SEL erstellten Filme, bei denen künstlerische, ethnografische und dokumentarische Elemente kombiniert werden, lassen keine einfache Kategorisierung zu. Sie werden in der Anthropologie-Lehre gezeigt, aber auch in Ausstellungen der bildenden Kunst (wie zum Beispiel der Documenta in Kassel). Die Filmemacher verfolgen sehr oft einen dezentrierten, nicht anthropozentrischen Ansatz, der sich nicht auf Menschen als privilegierte Akteure in der Welt konzentriert, sondern auf affektive Beziehungen zwischen verschiedenen Elementen unserer Umwelt.
Die aktuelle Ausstellung in der Temporary Gallery – "Heart of an old crocodile exploding over a small town" - zeigt einen der Filme, die als Beginn der Sensory Ethnography gelten – "Sweetgrass", einen Film über 'letzte Cowboys', die ihre Schafe durch die Gebirge von Montana führen. Beim ersten Termin ist der Filmemacher Laurent van Lancker zu Gast, dessen Filme als Sensory Ethnography betrachtet werden können. Am zweiten Abend des Seminars werden wir uns näher mit den Filmen von SEL befassen.
Zu allen Filmen gibt es eine Einführung und eine anschließende Diskussion.
Das Seminar wird von einer Leseliste (optional) begleitet. Wenn Sie die Texte erhalten möchten, schreiben Sie bitte an info@temporarygallery.org.
Getränke und Snacks werden bereitgestellt.
Die beiden Abende des Seminars können individuell besucht werden.
Programm:
Mi 12 Juni
Sitzung mit dem Filmemacher Laurent van Lancker
18–19 Uhr - Laurent Van Lancker: Kalès, 2017
19–20 Uhr - Vortrag von Laurent Van Lancker
20–21:30 Uhr - Laurent Van Lancker: Surya, 2006
Do 13 Juni
Sitzung mit Filmen des Sensory Ethnography Lab
18–20 Uhr - Ilisa Barbash und Lucien Castaing-Taylor: Sweetgrass, 2009, 101 min
20–22 Uhr - Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel: Leviathan, 2012, 87 min
Information:
Laurent Van Lancker: Kalès, 2017, 60 min
Eine intime Innenperspektive des „Dschungels“ von Calais, hervorgerufen durch eine Polyphonie von Menschen, Geschichten und Atmosphären. Eine sinnliche Reise durch das gesellschaftliche Leben und die Überlebensstrategien von Migranten. Ein Film von Wind und Verzweiflung, von Feuer und Solidarität, von Hoffnung und Hölle. Der Regisseur Laurent Van Lancker, der das tägliche Leben von Migranten bei zahlreichen Besuchen während der gesamten Dauer des „Dschungels“ teilt und häufig eine kollaborative Methodik (Bilder und Erzählungen, die teilweise von Migranten produziert wurden) verwendet, schlägt einen Film vor, der poetisch wie auch politisch ist und die unsagbare interne Wahrnehmung der Fähigkeit der Anpassung und des sozialen Lebens von Migranten hervorruft.
Laurent Van Lancker: Surya, 2006, 76 min
Auf einer Reise erschaffen zehn zeitgenössische Geschichtenerzähler verschiedener Kulturen eine imaginäre, epische Geschichte. Sie alle stützen sich auf ihren eigenen Stil und ihre eigene Sprache, um das Leben eines namenlosen Helden zu verlängern. Der Duft der Kulturen, der Geschmack der Worte und das Parfüm des Reisens tragen uns von einem Geschichtenerzähler zum nächsten.
Wie eine epische Geschichte pendelt dieser Film zwischen Vorstellung und Realität, Innen- und Außenwelt, Dokumentation und Fiktion.
Eine Ode an die Mündlichkeit.
Dieser impressionistische Film ist das Ergebnis einer Überland-Odyssee mit öffentlichen Verkehrsmitteln von der Dämmerung bis zur Morgendämmerung durch Europa und Asien (Belgien, Slowakei, Türkei, Syrien, Kurdistan, Iran, Pakistan, Indien, Nepal, Tibet, China, Vietnam). Eine audiovisuelle Performance, bei der Fantasie und Kreativität Grenzen überschreiten.
Ilisa Barbash and Lucien Castaing-Taylor: Sweetgrass, 2009, 101 min
Als eine unsentimentale Elegie auf den amerikanischen Westen, folgt „Sweetgrass“ den letzten modernen Cowboys beim Treiben ihrer Schafherden auf den atemberaubenden und oftmals gefährlichen Bergen der Absaroka-Beartooth Wilderness in Montana für die sommerliuche Weide. Der erstaunliche schöne aber schonungslose Film zeigt eine Welt, in der Natur und Kultur, Tiere und Menschen, Verletzlichkeit und Gewalt eng vernetzt sind. „Der Film zeigt die Gewalt der Schöpfung auf kleiner wie großer Ebene. In einer Szene beobachten wir die finster-komische Geburt eines Lamms mit der Hilfe eines Farmhelfers im Close-up. Das Lamm wird in einen Zirkus des Chaos geboren – blökende Schafschöre, brummende Maschinen, Cowboys, die glitschige Jungtiere aufeinander werfen – und wir sehen die misslichen Schwierigkeiten der Arbeit eines Schäfers. Zu einem anderen Zeitpunkt beobachten wir das gleiche Chaos, vom Mensch gegen die Natur, als ein Panoramabild unterlegt von der Frustration eines Cowboys beim Versuch der Natur Herr zu werden. Bei seinem zwecklosen Bemühen, die Herde auf einen Hügel zu treiben, schreit der Cowboy einen Schwall von Flüchen, der so kreativ ist, dass man meint eine zeitgenössische griechische Tragödie zu sehen. Aus der Ferne sehen wir kleine Flecken weißer Wolle, die vom Tal die Berge hoch wandern, der Cowboy vollkommen wutentbrannt angesichts seiner Schwierigkeiten, während sich eine riesige Wolke langsam ins Bild und über das Tal bewegt und seine kosmische Herrschaft behauptet“ (Brian Watkins)
Lucien Castaing-Taylor and Véréna Paravel: Leviathan, 2012, 87 min
Ein Dokumentarfilm, der im Nordatlantik gedreht wurde und sich auf kommerziellen Fischfang konzentriert. Der Film ist eine schwindelerregende Studie der menschlichen Beziehung zum Meer, die durch die Ausrüstung eines Fischerboots mit zahlreichen Kameras und Geräten gedreht wurde. Die im Film erreichte Dezentrierung evoziert Mythologien des Meeres und spricht dabei gleichzeitig dringende zeitgenössische Fragen hinsichtlich des Stellenwerts des Menschen im Kosmos und innerhalb einer zukünftigen Ökologie an.
Laurent van Lancker, geboren 1969 in Brüssel, ist Filmemacher und lebt in Brüssel. Van Lancker studierte Film und Anthropologie und promovierte in audiovisueller Kunst. Er unterrichtet an zahlreichen Filmhochschulen (INSAS - Brüssel, Filmakademie Amsterdam, UMAS - Split) und Universitäten (FU BERLIN, WWU Münster). Seine Filme untersuchen unterkulturelle Dialoge unter Verwendung von kollaborativen und sensorischen Strategien. Seine bekannteste Arbeit ist der Dokumentarfilm "Surya", der mehrfach international ausgezeichnete wurde (Golden Deer and Audience Award / Rodos Film and Visual Arts festival, SCAM prize), in Kinos und auf vielen internationalen Festivals gezeigt wurde (Paris, Leipzig, Dubai, Durban, Mar del Plata, Montréal, St. Petersburg, Ghent).
Anja Dreschke ist Ethnologin, Filmemacherin und Kuratorin. Ihre Forschungsinteressen und Veröffentlichungen liegen im Bereich von audiovisueller Anthropologie und Medienethnologie mit Schwerpunkt auf der Theorie und Praxis audiovisueller Medien an der Schnittstelle von experimenteller Ethnografie, essayistischem Film und künstlerischer Forschung. Zur Zeit ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Medien- und Kulturwissenschaften an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf. Ihr ethnografische Kinodokumentarfilm Die Stämme von Köln (2011, 90’), der als Teil ihrer Dissertation entstand, wurde bei zahlreichen internationalen Film Festivals, in Kinos und im Fernsehen gezeigt. Sie forschte zu Medienpraktiken des Reenactment (transcript 2006) und zu Trance Medien und Neue Medien an der Universität Siegen (2007-2017). Hier realisierte sie die Videoinstallation Trance Media (2012, mit Martin Zillinger) und war Herausgeberin von, unter anderem, Trance Mediums and New Media. Spirit Possession in the Age of Technical Reproduction (Fordham 2015, mit Heike Behrend und Martin Zillinger). Ihre kuratorische Arbeit bewegt sich zwischen Anthropologie, Film und Kunst, zuletzt in der Ausstellung Michael Oppitz. Bewegliche Mythen am KOLUMBA - Kunstmuseum des Erzbistums Köln (2018, mit Barbara von Flühe) und I See, So I See So. Messages from Harry Smith in der Temporary Gallery (2015, mit Regina Barunke).
Förderung und Unterstützung
University of Cologne
Global South Studies Center
Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen
Kulturamt der Stadt Köln
Deltax Wirtschafts- und Steuerberatungsgesellschaft mbH
Hotel Chelsea
Images
1 — Ilisa Barbash und Lucien Castaing-Taylor: Sweetgrass, 2009