SYMPOSIUM
Mose und Flechten
4 Juli 2020

 

In Englischer Sprache
Das Treffen findet über die Internet-Plattform Zoom statt.
Um teilzunehmen, melden Sie sich bitte vorab unter diesem Link an:
https://zoom.us/meeting/register/tJcsduirqTouGNWmVKmZSxHCEFiS8hQ5ioM0
Nach der Registrierung erhalten Sie eine Bestätigungs-E-Mail mit Informationen zur Teilnahme.

16 - 17 Uhr
Urszula Zajączkowska
On mosses - plants without skin

18 - 19 Uhr
Michael Marder
Moss: The Inassimilable

20 - 21 Uhr
Laurie A. Palmer
The Lichen Museum

 

 

Moos wurde also in jeder Hinsicht als langweilig, simpel, belanglos, wenn nicht gar primitiv wahrgenommen. Jedes noch so gewöhnliche Unkraut, das aus den Ritzen eines armseligen städtischen Trottoirs wucherte, schien das Moos an Raffinesse bei weitem zu übertreffen. Gleichwohl gab es einen Sachverhalt, der den meisten entgangen war, mit dem sich Alma in diesen Jahren jedoch vertraut gemacht hatte: Moosgewächse waren unvorstellbar stark. Moos kann ganze Steine auffressen, doch gibt es umgekehrt etwas, wovon sich Moos fressen lässt? Wohl kaum. Moos tut sich mit schleichender, zerstörerischer Kraft an Felsbrocken gütlich – ein Schmaus, der sich über Jahrhunderte hinzieht. Eine einzige Mooskolonie kann eine ganze Felswand zunächst in Kies und später in Muttererde verwandeln. Man muss ihr nur genug Zeit lassen. Kalkgesimse werden von Moosgewächsen bevölkert, die sich wie feuchte, lebendige Schwämme ans Gestein klammern und das kalkhaltige Wasser heraussaugen. Im Laufe der Zeit entsteht ein Gemisch aus Moosen und Mineralien, das sich in Travertin verwandelt. Die harte, gelblich-helle Oberfläche des Travertin ist von blauen, grünen und grauen Adern durchzogen – Spuren der vorgeschichtlichen Moosbesiedelung. Der Petersdom, errichtet aus diesem Stein, ist somit von den Leibern winziger, uralter Moose durchsetzt.

Moos wächst, wo nichts anderes wachsen kann. Auf Ziegelsteinen. Auf Baumrinden und Dachschiefern. Jenseits des nördlichen Polarkreises ebenso wie in milden tropischen Gefilden. Auf dem Fell von Faultieren, auf dem Rücken von Schlangen und auf modernden Menschenknochen. Mit Moos, so erfuhr Alma, kündigt sich auf verbrannter Erde oder verkarstetem Boden die Rückkehr pflanzlichen Lebens an. Moos ist imstande, einem ganzen Wald neue Lebenskraft zu verleihen. Es ist ein Meister der Wiederauferstehung. Ein Büschel Moos versteht es, vierzig Jahre lang ausgetrocknet vor sich hin zu schlummern, um dann – einmal in Wasser getaucht – schlagartig zu neuem Leben zu erwachen (…)

Irgendwo zwischen der geologischen Zeit und der Menschenzeit gab es allerdings noch etwas, das Alma die »Mooszeit« nannte. Verglichen mit der geologischen Zeit legte die Mooszeit ein geradezu atemberaubendes Tempo vor, denn Moos vermochte sich innerhalb von tausend Jahren in einer Weise zu entwickeln, von der Steine über einen Zeitraum von einer Million Jahren nicht einmal träumen durften. Im Vergleich zur Menschenzeit war die Mooszeit indessen von quälender Langsamkeit. Dem ungeübten menschlichen Auge präsentierte sich das Moos völlig regungslos, wie aus Erz gegossen. Und doch bewegte es sich, noch dazu mit bemerkenswerten Folgen. Lange schien sich nicht das Geringste zu verändern, doch dann, vielleicht nach einem Jahrzehnt, war auf einen Schlag alles anders. Moose entwickelten sich nun einmal so langsam, dass der größte Teil der Menschheit ihre Bewegungen nicht wahrnahm.

Elisabeth Gilbert Das Wesen der Dinge und der Liebe, Berlin Verlag 2013, E-Book-Ausgabe, S. 323 f., 327 f.

16 - 17 Uhr
Urszula Zajączkowska
On mosses - plants without skin

Der Vortrag von Urszula Zajączkowska basiert auf ihrem Text "Nasse Teppiche" aus dem Buch "Patyki, badyle" ("Stöcke, Stängel"), in dem sie über Bryophyten nachdenkt - kleine, krautige Pflanzen, die dicht gedrängt in Matten oder Kissen auf Steinen, Erde oder als Epiphyten auf den Stämmen und Blättern von Waldbäumen wachsen. Bryophyten bilden eine der ältesten Pflanzengruppen auf unserem Planeten - sie entwickelten sich vor mehr als 500 Millionen Jahren und haben sich seitdem kaum verändert. Diese Pflanzengruppe umfasst drei verschiedene evolutionäre Linien, die heute als Moose, Leberblümchen und Hornkraut anerkannt sind.

Urszula Zajączkowska ist Dichterin, Botanikerin, bildende Künstlerin und Musikerin. Sie arbeitet als Assistenzprofessorin an der Autonomen Abteilung für Forstbotanik der Warschauer Universität für Lebenswissenschaften wo sie den Wachstum, Anatomie und Bewegung von Pflanzen unter Einbeziehung ihrer Aerodynamik und Biomechanik untersucht. Für ihre Schriften - zwei Gedichtbände: „Atomy“ und „Minimum“ sowie das Buch „Patyki, Badyle“ erhielt sie zahlreiche Preise und Preisnominierungen. Als bildende Künstlerin kreiert sie Kurzfilme, zum Beispiel "Metamorphosis of Plants" (https://vimeo.com/161297124), inspiriert von dem Werk Johann Wolfgang Goethes. Der Film kombiniert wissenschaftliche Filme, in denen Pflanzenbewegungen aufgezeichnet werden, mit dem Tanz des nationalen Ballettsolisten Patryk Walczak. Er gewann das Scinema Festival of Science Film in der Kategorie Bester experimenteller Film / Animation.

18 - 19 Uhr
Michael Marder
Moss: The Inassimilable

Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Moos Philosophen ebenso fasziniert wie, sagen wir, Kakerlaken oder Staub. Aber wenn wir an der Oberfläche dieser Gleichgültigkeit kratzen, scheint sich darunter etwas ganz anderes zu verbergen. Francis Bacon, Jean-Jacques Rousseau und Friedrich Nietzsche sagen uns je auf ihre Weise ein und dasselbe: Moos ist der Metaphysik nicht assimilierbar. Diese winzige Pflanze, die das gesamte Königreich Plantae im Kleinen zusammenfassen und etwa 14.000 Arten umfasst, stellt eine gewaltige Herausforderung dar, für ein Denken, das auf Gegensätzen beruht, für lineare Chronologien und für konventionelle Energietheorien. Von aussen gesehen, unterstützen Moose Projekte, die die Philosophie revolutionieren, sie aus ihrer Besessenheit vom Tod zurück ins Leben zu bringen. Mit den Augen eines Kindes gesehen, wird das Moos kognitiv ebenso frisch und erfrischend wie lebendig und schillernd grün.

Michael Marder ist Ikerbasque Research Professor of Philosophy an der Universität Baskenland UPV/EHU, Vitoria-Gasteiz. Seine Arbeit umfasst Umweltphilosophie und ökologisches Denken, politische Theorie und Phänomenologie. Er ist Autor zahlreicher Bücher und zahlloser akademischer Artikel, die sich mit einer Kritik des Anthropozentrismus in der Philosophie befassen, die nicht-menschliche Existenzweisen berücksichtigt, insbesondere in Bezug auf die Ontologie der Pflanzen. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen gehören: „Plant-Thinking: A Philosophy of Vegetal Life“ (2013); „The Philosopher's Plant: An Intellectual Herbarium“ (2014); „Pyropolitics: When the World Is Ablaze“ (2015); „Dust“ (2016); „Grafts“ (2016); „Through Vegetal Being“ mit Luce Irigaray (2016); „Energy Dreams: Of Actuality“ (2017), „Political Categories: Thinking beyond Concepts“ (2019)

20 - 21 Uhr
Laurie A. Palmer
The Lichen Museum

Das Lichen Museum ist eine Einrichtung von innen nach außen, die weit über verschiedene Oberflächen der Erde verteilt ist, vor Ort erlebt wird und sich vielfach konstituiert. Als fortwährendes gemeinschaftliches Kunstprojekt (in Zusammenarbeit mit Flechten) zielt das Lichen Museum darauf ab, das menschliche Verständnis und die Erfahrungen von Zeit zu erweitern - über unser relationales Selbst, über ökologische Kollektivitäten und die Gewalt der Privatisierung nachzudenken und der Rhetorik von Knappheit, Angst und Konkurrenz einen viszeralen Sinn von Potentialität und Möglichkeiten der Veränderung entgegenzusetzen.

Während Museen als Institutionen definiert werden, die sich „kümmern“, sind westliche Kunst- und Naturkundemuseen dafür bekannt, dass sie nach wie vor sowohl Wesen als auch Dinge beherbergen, die im Rahmen des Projekts der Kolonisierung und des Aufbaus eines Imperiums erbeutet, gestohlen oder getötet wurden, und dass sie ihre Sammlungen nach hierarchischen und exklusiven Vorstellungen von Ordnung und Wert organisieren. Das Lichen Museum leiht sich den musealen Rahmen der „Fürsorge“, ist aber nicht durch Praktiken des Erwerbs, Besitzens, Einschließens oder Bewahrens strukturiert (und verlangt auch keinen Eintritt). Stattdessen ist seine „Sammlung“ massiv verteilt, frei zugänglich, immer offen und bleibt an Ort und Stelle. Das Lichen Museum schätzt „langsam“, „klein“, „inkrementell“, „widerstandsfähig“, „beharrlich“ und „überraschend“ - im Gegensatz zu allzu spektakulären, universellen und totalisierenden Vorhersagen von Apokalypse (oder Rettung).

In dieser Präsentation wird die Künstlerin das, was sie über das Lichen Museum weiß, durch kurze Zusammenfassungen der sieben Kapitel des Buches skizzieren, welches sie darüber verfasst. Jedes Kapitel (Massively distributed, More than one, Lichen time, In place, Likeness, Usefulness, und Sun) untersucht eine radikale Qualität der Flechten. Als antikapitalistische Gefährten und Überlebende der Klimakrise schlagen Flechten alternative Möglichkeiten für den Menschen und für Beziehungen vor.

Die Künstlerin findet Erlaubnis und Inspiration in der Arbeit vieler anderer Schriftsteller, Forscher und Künstler, deren Werk die Welt in unerwartete Formen teilt und den Rest von uns dazu inspiriert, die eingebürgerte Realität zu stören, um alternative Zukünfte vorzuschlagen und zu erfinden.

Laurie Palmer ist Professorin in der Kunstabteilung der UC Santa Cruz. Ihre ortsbasierten, forschungsorientierten Kunstwerke entstehen in Form von Skulpturen, öffentlichen Projekten und Künstlerbüchern, und sie arbeitet an strategischen Aktionen im Kontext von sozialer und ökologischer Gerechtigkeit. In ihrem Buch In the Aura of a Hole: Exploring Sites of Material Extraction (2014, Black Dog) untersucht sie, was mit Orten geschieht, an denen Materialien aus dem Boden entfernt werden, und wie sich diese Materialien, einmal befreit, zwischen der Erde und unserem Körper bewegen. Zurzeit arbeitet sie an The Lichen Museum, einem Buch, das Flechten als antikapitalistische Gefährten und Überlebende der Klimakrise vorstellt. Palmer hat ihre skulpturalen Arbeiten zuletzt im Lichen Museum gezeigt: Im Museum für Kunst und Geschichte in Santa Cruz (Jenseits des Weltuntergangs, 2020); im Haus der Kunst in München (Der große Schlaf, 2019); in der Iceberg Gallery in Chicago (Sensing Connection to the Time Left, 2018) und in der Galerie D21 in Leipzig (Schichten, 2016, kuratiert von Lena Von Geyso und Elisabeth Pichler).

 

Eine Veranstaltung im Rahmen der Ausstellung "Floraphilia. Revolution of plants" in Zusammenarbeit mit exMedia Lab, Kunsthochschule für Medien